49 DSD 3 | 2024 WIRTSCHAFT UND POLITIK Europäisierung der Inneren Sicherheit Von Reinhard Rupprecht Die Sorge um die Sicherheit des Staates, seiner Bürger und seiner Wirtschaft vor kriminellen Angriffen, Naturkatastrophen und schwerwiegenden Unfällen ist auch in Staatengemeinschaften primär Sache der Nationalstaaten. Dennoch ist in der EU eine Tendenz zur Europäisierung der Inneren Sicherheit politisch und regulatorisch, institutionell und organisatorisch offensichtlich. Entwicklung seit den 1970er-Jahren Der Weg zu einer europäischen Sicherheitsunion hat sich in den letzten fünf Jahrzehnten schrittweise vollzogen. Neue Bedrohungen haben ihn bisweilen beschleunigt, politische Umbrüche in einzelnen Nationalstaaten und deren Egoismen aber auch zu Rückschritten geführt. Bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1958 spielte eine Zusammenarbeit im Bereich der Inneren Sicherheit noch keine Rolle. Sie begann zunächst bilateral zwischen einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft. Bei ersten multilateralen Kooperationen standen zunächst unterschiedliche Strukturen nebeneinander. Auf rein zwischenstaatlicher Ebene angesiedelt – ohne rechtlichen Bezug zum EG-Rahmen – begann die Zusammenarbeit von EG-Staaten in der sogenannten TREVI-(Terrorism, Extremism, Violence International-)Gruppe seit 1976 zur polizeilichen Zusammenarbeit, Terrorismus- und Drogenbekämpfung 1976 (TREVI I–III). 1985 wurde von zunächst fünf EG-Staaten die sogenannte Schengengruppe gegründet, die mit der polizeilichen Zusammenarbeit, der Rechtshilfe und Fragen des Auslieferungsrechts im Hinblick auf den beschlossenen Fortfall der Grenzkontrollen an den gemeinsamen Binnengrenzen ab 1993 befasst war. Dazu gehörte der Aufbau des Schengener Informationssystems, das die Polizeien und Sicherheitsbehörden für Verdachtswarnungen, Personen- und Sachfahndungen nutzen konnten. Inzwischen wird auf das Informationssystem, das die Eingaben in Echtzeit zur Verfügung stellt, jährlich milliardenfach zugegriffen. In Deutschland wird das SIS stündlich durchschnittlich 82.000-mal abgefragt und erzeugt täglich etwa 425 Fahndungstreffer mit Deutschlandbezug. Der Vertrag von Maastricht 1992 zur Gründung der EU brachte mit der sogenannten Dritten Säule der EU für die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres einen entscheidenden Durchbruch. Der Vertrag von Amsterdam 1997 benannte dann als Zielvorgabe einen „Gemeinsamen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ (RFSR). 1998 wurde EUROPOL als europäische Polizeibehörde gegründet, um die Arbeit der nationalen Polizeien der Mitgliedstaaten im Bereich der grenzüberschreitenden Organisierten Kriminalität (OK) zu koordinieren und den Informationsaustausch zwischen den nationalen Polizeibehörden zu fördern. 2002 wurde EUROJUST als EU-Agentur zur Koordinierung grenzüberschreitender Strafverfahren geschaffen und im Vertrag von Lissabon 2007 im Primärrecht verankert. In diesem Vertrag erfolgte ein weiterer wichtiger Schritt im Europäisierungsprozess: die grundsätzliche Überführung der Entscheidungsverfahren im RFSR in die EUGesetzgebung mit qualifizierten Mehrheiten und Mitsprache des EU-Parlaments. Insbesondere als Reaktion auf den komplexen Terrorangriff auf die World Trade Tower 2001 erfolgte der Aufbau der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX zur Überwachung von Migrationsströmen, Schwachstellenanalysen sowie der Koordination und Organisation von gemeinsamen Regel- und Soforteinsätzen an den EU-Außengrenzen. Die Kompetenzen von FRONTEX wurden seit 2016 mehrfach erweitert und mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattet. Und 2017 wurde eine Europäische Staatsanwaltschaft für den Schutz der finanziellen Interessen der EU eingerichtet. Aktuelle Häufung von EU-Rechtsakten und neuen Standards Die Zahl der von der EU-Kommission ausgearbeiteten Rechtsakte zur Kriminalitätsbekämpfung, zum Daten- und Verbraucherschutz, zum Schutz Kritischer Infrastrukturen, vor allem aber zur Sicherung der EU-Netzpolitik und der Digitalisierung hat in den letzten Jahren mit beträchtlicher Dynamik zugenommen. Im Bereich KriminaVizepräsident des BKA a.D., Ministerialdirektor beim BMI a.D. und heute als unabhängiger Berater in Sicherheitsfragen tätig. Reinhard Rupprecht
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