DER SICHERHEITSDIENST

WIRTSCHAFT UND POLITIK 42 DSD 1 | 2022 Wirtschaftskriminalität – ein interpretationsbedürftiges Phänomen Von MinDir a.D. Reinhard Rupprecht ist Vizepräsident des BKA a.D., Ministerialdirektor beim BMI a.D. und heute als unabhängiger Berater in Sicherheitsfragen tätig. Reinhard Rupprecht Nach dem vom BKA erarbeiteten Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2020 wurden unter diesem Begriff insgesamt 49.174 Verdachtsfälle registriert und folgende Deliktsarten erfasst: • 27.907 Fälle der Wirtschaftskriminalität bei Betrug • 8.635 Fälle der Insolvenzkriminalität • 5.310 Anlage- und Finanzierungsdelikte • 1.137 Wettbewerbsdelikte • 6.231 Arbeitsdelikte • 4.865 Fälle des Betrugs oder der Untreue iZm Kapitalanlagen • 3.840 Fälle des Abrechnungsbetrugs im Gesundheitswesen Definition im Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität Dabei definiert das BKA in Anlehnung an die Zuständigkeit der Wirtschaftsstrafkammern (§ 74c Abs. 1 Nrn. 1–6b GVG) dieWirtschaftskriminalität kriminologisch als vertrauensmissbrauchende Begehung von Straftaten im Rahmen einer tatsächlichen oder vorgetäuschten wirtschaftlichen Betätigung, die unter Gewinnstreben die Abläufe des Wirtschaftslebens ausnutzt und zu einer Vermögensgefährdung oder einemVermögensverlust großen Ausmaßes führt oder eine Vielzahl von Personen oder die Allgemeinheit schädigt. Dabei bleibt das Bundeslagebild bei der Aufzählung der sieben Deliktsarten schon hinter dem vom BKA verwendeten Begriff zurück. Denn Delikte wie Software- oder Produktpiraterie, Verletzung von Geschäftsgeheimnissen, unerlaubtes Betreiben von Anlagen, unerlaubter Umgang mit Abfällen oder mit gefährlichen Gütern werden auch im Rahmen tatsächlicher oder vorgeblicher wirtschaftlicher Betätigung begangen.1 Noch enger ist die als herrschende Meinung von Schwind2 bezeichnete Definition, die vorgetäuschte wirtschaftliche Betätigung nicht erwähnt. Das von Burghard W. und anderen herausgegebene Kriminalistik-Lexikon3 führt vier Straftatengruppen an, deren Zusammensetzung erklärungsbedürftig bleibt und die sich aus mehr als 200 Bundesgesetzen ergeben sollen. Wirtschaftskriminalität als gegen die Wirtschaft gerichtete Kriminalität Die bisher gebräuchliche Definition hat nicht nur den Schönheitsfehler, dass der pragmatische Deliktsbegriff des § 74c GVG den Begriffswirrwar nicht zu lösen vermag.4 Sie ist darüber hinaus nicht zielführend. Ein kriminalistisch-kriminologisches Lagebild sollte vor allem das Ziel erreichen, die von der spezifischen Kriminalität Betroffenen über die Bedrohungssituation zu

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